Kintsugi
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Meine Kintsugi-Geschichte
Meine Teekanne ist heruntergefallen. Sie war zerbrochen. Ich schaute auf die Scherben und war traurig. Ich dachte daran, wie ich in der Kanne Tee bereitete und ihn trank. Ich dachte daran, was ich dabei erlebt und getan hatte. Entspannte Nachmittage, Gespräche mit Menschen, die ich mag, … Lachen, Nachdenken, Trost, Freundschaft, Verbundenheit, Nähe … Doch jetzt nur noch Scherben. Ich dachte an andere Dinge in meinem Leben, die zerbrochen waren.
Es gibt eine japanische Tradition, Zerbrochenes wieder zusammenzusetzen. Das japanische Wort dafür ist Kintsugi 金継ぎ. Wörtlich bedeutet Kintsugi "Goldverbindung" oder "goldenes Zusammensetzten". Die zerbrochenen Teile eines Gegenstandes werden zu einem neuen Ganzen zusammengesetzt. Die Risse, Sprünge und Narben bleiben sichtbar und erhalten durch das Gold, mit dem sie verbunden sind, eine besondere Wertschätzung. So fügte ich meine Teekanne wieder zusammen. Sie war mir wichtig und durch die Erinnerungen, die ich damit verband, besonders wertvoll.
Die Kunst des Kintsugi basiert auf der Vorstellung, dass alle Dinge einzigartig sind und Unvollkommenheit und Vergänglichkeit eines Gegenstandes nichts von dessen Schönheit wegnehmen. Im Gegenteil, die einzigartige Schönheit liegt in der Geschichte, die ein Gegenstand erzählt, und dazu gehört nun einmal auch Unvollkommenes, Abnutzungsspuren, Risse und Sprünge, … kurz gesagt: die Tatsache der Vergänglichkeit. Kintsugi ist darum die wohltuende und entlastende Abkehr vom Versuch, perfekt sein zu müssen.
Kintsugi zeigt uns, dass ein Bruch nicht das Ende ist. Die Geschichte meiner Teekanne geht weiter, sie ist nicht beendet. Sie geht anders weiter, nun mit goldenen Rissen. Zerbrochenes kann wieder zusammengefügt werden. Dinge können wieder heil werden. Die Geschichte der Teekanne geht weiter, sie erzählt davon, dass der Gegenstand so wichtig ist, dass er mühsam repariert wurde und nun mit seinen goldenen Rissen noch wertvoller ist. So ist es in unserem Leben: Die Spuren des Lebens verleihen uns unsere Einzigartigkeit und eine besondere Schönheit. Es macht unser Leben tiefer. Kintsugi vermittelt uns darum die Vorstellung, dass es besser ist, das Vergangene, selbst wenn es Verletzungen oder Schäden sind, zu integrieren, anstatt es zu verleugnen. Brüche, risse und Wunden sind ein Teil unserer Geschichte.
Die Reparatur der Teekanne brauchte Zeit. Kintsugi braucht Zeit. Risse und Brüche heilen nicht sofort, dachte ich beim Reparieren der Teekanne, das hatte ich schon oft in meinem Leben erfahren. Und schon hatte ich die Kunst des Kintsugi auf mein Leben übertragen. Kintsugi kann für uns eine Metapher in unserem Leben sein.
So wie das Zusammenfügen der Scherben meiner Teekanne Zeit und Geduld brauchte, so brauchte in meinem Leben manche Heilung auch viel Zeit. Und so wie es die Bereitschaft brauchte, die Scherben der Kanne nicht wegzuwerfen, brauchte es in meinem Leben auch immer wieder die Bereitschaft, Zerbrochenes nicht einfach wegzuwerfen, sondern sich achtsam damit auseinanderzusetzen. Ich brauchte Achtsamkeit den Scherben gegenüber, die nicht so einfach zusammenzufügen waren, und ich brauchte achtsames und liebevolles Hinschauen auf die Risse und Brüche in meinem Leben. Manchmal braucht das richtig viel Mut. Es ist leider oftmals nicht angenehm, das Zerbrochene im eigenen Leben anzuschauen, … weil es vielleicht schmerzt, … weil ich mich vielleicht schuldig fühle, … Viele Gedanken und Gefühle stiegen in mir auf als ich die Teekanne mit Gold reparierte. Manchmal braucht Heilung aber auch eine Ruhepause. Ich machte eine Pause.
Kintsugi kann also eine Metapher für unser Leben sein. Lebenserfahrungen, die wir als zerbrochen erlebt haben, können manchmal eine neue Wendung erhalten. Kintsugi kann uns helfen, einzelne Lebensereignisse in einem anderen Zusammenhang neu wahrzunehmen und neue Zusammenhänge zu entdecken. Brüche und Risse sind Teile einer größeren, zusammenhängenden Geschichte meines Lebens. Manchmal kann es sogar passieren, dass wir plötzlich entdecken, dass scheinbar zusammenhangslose Teile unseres Lebens ein neues Bild ergeben. Wir lernen, einen Sinnzusammenhang in unserem Leben zu finde. Und dieser neue Sinnzusammenhang ist so einzigartig und wertvoll für uns wie die zusammengefügten Teile der Teekanne. Wir entdecken Narben aus Gold.
Diese Narben aus Gold geben uns Einzigartigkeit und eine besondere Würde. Wenn wir Kintsugi wie eine Metapher anwenden, können wir uns mit Zerbrochenem aus der Vergangenheit versöhnen, indem wir uns dem Zerbrochenen achtsam und liebevoll zuwenden. Wir finden neue Sinnzusammenhänge und unsere Erfahrungen machen uns reicher. Das achtsame Betrachten des Erlebten und Neues können für uns so zu einer Quelle von Resilienz werden.
Wenn ich so auf mein Leben blicke, entdecke ich goldene Narben. Ich kann einerseits die Scherben sehen, die nun wieder zusammengefügt sind, aber ich kann auch auf das Gold schauen, das alles zusammenhält. Ich kann mich dann fragen, was ist es, was die Teile zusammenhält? Freundschaft, Nähe, Vertrauen, Liebe, Heimat, … Ja, das ist wie Gold in meinem Leben.